Nachrichten und Pressemeldungen

2018-07-11 | Pressemeldung

NSU-Affäre: Hintergründe des massiven, institutionellen Versagens aufklären!

Zehn Menschen wurden durch rechten Terror der NSU kaltblütig getötet, mehr als 30 weitere wurden bei den Anschlägen teils schwer verletzt.

In Deutschland war eine Gruppe aktiv, die planmäßig Menschen ausländischer Herkunft hinrichtete und anschließend die Opfer in Bekennervideos noch verhöhnte. Elf Jahre dauerte es, bis die Täter einer Terrorzelle zugehörig entdeckt und verurteilt wurden. 

Die monströse, rassistische Mordserie wurde anfangs noch als "Döner-Morde" genannt und die Opfer so noch mehr verhöhnt. Doch es war rechter Terror. Die Ermittler stellten dies viel zu spät, erst nach elf Jahren, fest.

Am 23. Februar 2012 versprach die Bundeskanzlerin Angela Merkel stellvertretend für die staatlichen Organe den Hinterbliebenen der Opfer des NSU, alles zu tun, um die Morde aufzuklären, die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken, und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Nicht gelungen ist nach wie vor, aufzuklären, wie es zu dem massiven Behördenversagen, den schlampigen Ermittlungen und Verstrickungen der Geheimdienste kommen konnte. Die staatlichen Organe haben durch Schreddern der Akten oder durch Blockade der Aussagen von Spitzeln aktiv den Rechtsfindungsprozess des Gerichts sabotiert, so dass sehr viele offene Fragen unbeantwortet blieben:  Welche Rolle hatte der Verfassungsschutz wirklich und inwiefern finden sich dort Ursachen für eklatante Ermittlungspannen? Wie konnten noch während des Prozesses nachträglich Akten vernichtet und dies lapidar als „Pannen“ abgetan werden? Wieso wurden Akten im Gerichtsverfahren selbst zurückgehalten? Wieso bleiben die NSU-Berichte des Verfassungsschutzes über NSU-Kontakte bis ins Jahr 2134, also 120 Jahre geheim?

Die Helfershelfer und Hintermänner der NSU aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen, ist damit nicht gelungen.

Das juristische Ergebnis nach fast 6 Jahren und 389 Verhandlungstagen ist dennoch nicht endgültig. Die Angeklagte hat erwartungsgemäß Revision angekündigt und wird weiter das Unschuldslamm vorgaukeln.

So psychologisch wichtig für die Angehörigen der Opfer die Konfrontation mit der Angeklagten im Gerichtssaal gewesen ist, so wichtig war es auch, die Opfer und die Öffentlichkeit über die Beziehung der Täter zu den staatlichen Organen aufzuklären. Unbefriedigend und enttäuschend bleibt das juristische Ergebnis - nicht nur für die Angehörigen der Opfer. Die Aufarbeitung der Verbrechen wurde von den Ermittlern nachgewiesen nicht ernst genug genommen, und das Gericht hatte nicht die Aufgabe, diese Verbrechen aufzuarbeiten. Es war zu erwarten, dass die Angeklagte die Möglichkeiten des Strafprozesses ausnutzt und sich sicherlich nicht an der Aufklärung beteiligen wird.

Nachhaltig und dauerhaft bestürzend ist die Voreingenommenheit, der Rassismus in der Gesellschaft und auch der institutionelle Rassismus, den dieser Skandal aufgedeckt hat und die diesen Terror überhaupt erst ermöglicht haben. Bezüglich pauschalen Vorurteilen und verbalen Übergriffen hat sich seitdem jedoch nicht viel geändert. Im Gegenteil, sie sind seitdem deutlich stärker geworden. Dass wir aus der NSU-Terrorserie gesellschaftlich nicht die richtigen Konsequenzen ziehen, zeigte sich zuletzt auch bei den aktuellen Diskussionen um Flüchtlinge oder den Umgang mit Angriffen auf Moscheen, Muslime und Flüchtlinge. All diese Themen sind leider noch immer geeignet, um ohne große gesellschaftliche Gegenwehr populistisch auf Stimmenfang zu gehen. Und letzteres hat direkte Auswirkung auf die Frage nach gesellschaftlichen „Sündenböcken“. Diese Frage zu stellen, hat nichts mit der oft unterstellten „Opferhaltung“ zu tun, sondern mit gesellschaftlichen Realitäten und Zündstoffen, die sich nicht selten an bestimmten gesellschaftlichen Gruppen entzünden. Die „Türkenfeindlichkeit“, die sich in Deutschland in verschiedenen Phasen immer wieder Bahn bricht, muss in aller Deutlichkeit thematisiert, problematisiert und therapiert werden.

Dass rechtes Gedankengut gesellschaftlich salonfähig geworden und heute in fast allen Landesparlamenten und im Bundestag zu finden ist, ist  genauso erschreckend, wie die deutlich gestiegene Zahl der politisch motivierten Straftaten gegen Menschen ausländischer Herkunft, ihrer Betriebsstätten und insbesondere gegen Moscheen in Deutschland. Allein für das Jahr 2018 wurden unsererseits 47 Anschläge gegen Moscheen registriert.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Unversehrtheit und Schutz seines Eigentums. Aufgabe der staatlichen Organe ist, diesen Schutz zu gewährleisten. Dabei darf nicht nach Herkunft, Ethnie oder Religion unterschieden werden. Der kollektive Bestand einer Minderheit muss als Ganzes geschützt werden. Der Schutz kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft den kollektiven Bestand akzeptiert; mithin akzeptiert, dass für die meisten eingewanderten Menschen Deutschland zweite Heimat geworden ist, sie sich dauerhaft in Deutschland niedergelassen haben und in Deutschland ihre Religion und familiäre Traditionen im Rahmen der geltenden Gesetze in Frieden und unter dem Schutz der staatlichen Organe ausleben wollen. Auch aus diesem Grunde muss der Islam in Deutschland anerkannt und mit anderen Religionen in diesem Land rechtlich gleichgestellt werden, um nicht dauerhaft als Fremde markiert und nicht als Projektionsfläche für eine drohende Entfremdung missbraucht zu werden. Anerkennung und Akzeptanz ist der optimale Schutz vor Rassismus dieser Couleur. 

Es wäre falsch, wenn Politik, Medien und Gesellschaft mit diesem Gerichtsurteil heute das Thema der Aufarbeitung für abgeschlossen erklären und sich ihrer Verantwortung entziehen. Dieser Urteilsspruch sollte zum Anlass genommen werden, sich dieser Thematik ernsthaft anzunehmen, um die Hintergründe des massiven, institutionellen Versagens und der gesellschaftlichen Missstände über das rein Juristische hinaus zu diskutieren. Das Urteil kann nur ein erster Schritt der juristischen Aufarbeitung der „NSU“-Affäre sein, der weiterer gesellschaftlicher, politischer und medialer Aufarbeitung, Thematisierung und Maßnahmen bedarf.
 

DITIB-Bundesverband