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2013-05-28 | Meldung

20 Jahre. Gedenken an die Opfer des Brandanschlags von Solingen

Schweigen heißt nicht vergessen, im Gegenteil

Saime Genç, 4 Jahre. Hülya Genç, 9 Jahre. Gülüstan Öztürk, 12 Jahre. Hatice Genç, 18 Jahre. Gürsün İnce, 27 Jahre alt. Sie sind beim Brandanschlag von Solingen am 29 Mai 1993 umgekommen. Ermordet. Nach 20 Jahren müssen ihre Namen an den Anfang. Wir wollen ihnen, den Opfern, gedenken. Das ist nicht leicht für alle die, die sie nicht kannten. Noch schwieriger ist es für die Hinterbliebenen. Es ist auch deshalb schwer, da in den letzten 20 Jahren das Ereignis zu einem Symbol geworden ist für Menschenfeindlichkeit und Rassismus. Wie kann man die Opfer zum Gedenken aus ihrem Symbolsein herausschälen und sie sie selbst sein lassen? Das ist unsere erste Pflicht, den Menschen, die Menschen zu sehen und nicht die Tat. Das ist eine von jenen Taten, die schon deshalb perfide ist, weil man wegen ihrer Bedeutung eher die Tat und damit indirekt irgendwie auch die Täter würdigt. Die Täter, deren rechtliche Strafe bereits verbüßt ist und die wieder frei sind.

Die Opfer und das Gedenken zuerst! Gedenken geht am besten mit Schweigen. Dabei zeigt sich die Unzulänglichkeit unserer Sprache, da wir nur ein Wort für Schweigen kennen. Das Schweigen zum Gedenken ist ein würdiges Schweigen, es ist das Schweigen, das alle störenden Gedanken ausschaltet, um sie ganz denjenigen zu widmen, um die es geht. Saime, Hülya, Gülüstan, Hatice, Gürsün. Es sind so schöne Namen! Denen, die sie trugen, gilt es ein leises Gebet zu sprechen. Ihr Andenken gilt es zu bewahren.

Je mehr ihr Andenken gewahrt bleibt, desto klarer wird auch die Schwere der Tat. Nur wenn jedes Opfer aus dem Unpersönlichen herausgeholt wird, wird das Ausmaß des Verlustes klarer. Der Ort, an dem dieser Mord geschah symbolisiert es heute angemessen. Dort, wo das Haus einst stand ist nur noch Grün und eine Gedenktafel. Für sie.

Nicht-Schweigen gegen die Tat

Schweigen ist in unserer Sprache oft geschmäht worden. Wer schweigt, stimmt auch den üblen Dingen zu. Schweigen heißt vergessen. Das ist wahr. Aber hier ist ein anderes Schweigen gemeint. Es ist das Schweigen, das sich nicht auf die Opfer, sondern auf die Tat und die Täter bezieht. Man müsste dafür ein anderes Wort erfinden. Es ist das Nicht-Sprechen, das Nicht-Empören, das Nicht-Aufschreien. Die Reaktion auf eine solche Tat kann nicht laut genug sein. Schweigen ist hier völlig unangebracht.

20 Jahre nach dem fünffachen Mord müssen wir bereit sein, noch zwanzig weitere Jahre davon zu sprechen. Denn das, was zu dieser Tat geführt hat, der Menschenhass, der Rassismus, die Hetze haben nicht aufgehört. Eigentlich muss man sagen: Die Menschenhasser, die Rassisten, die Hetzer. Denn wie die Opfer Menschen sind, sind auch die, die der Tat den Boden bereiten Menschen. Sie sind kein anonymes Etwas und sie sind verantwortlich.

Der Kampf gegen Rassismus, Extremismus und Diskriminierung ist oft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe bezeichnet worden. Das ist richtig so. Aber wir müssen vorsichtig sein, dass uns dieses Wort „gesamtgesellschaftlich“ nicht einhüllt, ja einlullt in eine anonyme Masse von Menschen. Denn die Menge der Gesamtgesellschaft ist immer mehr als das Ich und wenn die Gesamtgesellschaft etwas tut, dann ist das Bisschen, das das Ich tut, ja vielleicht nicht so bedeutend, vielleicht verzichtbar. Nein! Wer ein so großes Wort wie „Gesamtgesellschaft“ benutzt, muss auch bereit sein, aufzuzählen. Er muss Gruppen, Funktionen, Berufe nennen. Wenn nötig muss er Namen nennen, wenn es darum geht, die Wirksamen, die Mächtigen, die etwas tun könnten und es nicht tun, zu benennen.

Wir blicken auf 20 Jahre zurück und wenn wir u.a. die Opfer von Mölln dazu nehmen, dann müssen wir noch weiter zurück gehen. Und wir sehen, dass die Grausamkeit geblieben ist. Der NSU- Terror, die schwadronierenden Stiefel auf den Straßen, die Provokateure in den Alleen und im Internet und das schleichende Festsetzen diskriminierender, menschenfeindlicher Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft. Von Jahr zu Jahr, Schritt für Schritt, aber unbeirrt, schreiten menschenfeindliche Einstellungen in unserer Gesellschaft voran. Vorher ging es um Asylantenschwämme, Überfremdung durch Ausländer. Nun verlagern sich Begriffe, Schauplätze, Methoden und zu all dem kommt die Islam- und Muslimfeindlichkeitkeit hinzu. Wie etwas vor aller Augen geschehen und doch unbemerkt sein kann, zeigen die grausamen und menschenverachtenden Taten des NSU-Terrors, die reell da waren. Genauso unbemerkt und vor aller Augen schleichen sich diskriminierende Einstellungen in die einzelnen Köpfe ein. Man möchte den Menschen zurufen: “Lasst Euch nicht instrumentalisieren!“ Man möchte rufen: „Schweigt nicht gegen Rassismus und Diskriminierung!“

Doch heute, 20 Jahre danach, möchte man auch sagen: „Seid mal eben still. Schweigt mal, wenn auch nur kurz. Für Saime, Hülya, Gülüstan, Hatice und Gürsün.“ Wir gedenken der Opfer und ihrer Angehörigen.

Die Antirassismus und Antidiskriminierungsstelle der DITIB – Diskriminierung und Gewalt melden - Website geht online

Wir müssen etwas tun. Und im Gedenken an die Opfer der Tat von Solingen vor 20 Jahren hat der DITIB Dachverband jetzt eine Internetseite online gestellt. Sie hat das Ziel, allen, die Opfer von Diskriminierung und Gewalt geworden sind, einen Ort zu geben, an dem sie zumindest gegen das Vergessen etwas tun können. Dort können alle, die Diskriminierung erfahren oder Opfer von Gewalttaten sind, diese Tat melden. Es dürfen keine Opfer vergessen werden. Auch die Diskriminierungen und Kränkungen des Alltags hinterlassen Wunden. Dabei sind die inneren Wunden oft genauso schwer wie die äußeren. Jede Tat ist würdig festgehalten zu werden. Denn hinter jeder Tat steht auch ein Opfer – ein Mensch!