Nachrichten und Pressemeldungen

2011-12-24 | Grußbotschaft

Grußbotschaft von DITIB Zu Weihnachten 2011

Das Betrachten der Welt und der fein gewobenen Ordnung, die sie durchzieht, intensiviert in uns die Bewunderung, die Anerkennung, die Liebe und die Nähe, die wir für seinen wahren Besitzer empfinden.

Wir sind dem wahren Schöpfer dankbar, der uns vom Nichts in das Sein gebracht hat und spüren dabei, welch Besonderheit und Privileg für jedes Individuum es ist, vom Nicht-Sein ins Sein gebracht zu werden, wobei wir uns nicht in Gänze vorstellen können, was dies für uns selbst bedeutet. Wir bemerken, dass der Grund für unser Dasein in diesem Leben nicht der Entschluss unseres eigenen Verstandes und nicht unser Verdienst, sondern ein göttlicher Wunsch ist und beobachten bei jedem Individuum des Menschengeschlechts diese Auserwähltheit, diese Schönheit und wunderbare Seite am Dasein.

Dieses Grundverständnis und Bewusstsein bringen alle abrahamitischen Religionen zum Ausdruck. Sie gemahnen uns, diese Grundparadigmen als gewichtigste Botschaft anzunehmen. Sie sollen das Fundament und der Bezugspunkt für das Leben der Individuen und der Gestaltung von Gesellschaft sein. So können daraus eine gesellschaftliche Wahrnehmung und ein Bewusstsein erwachsen, die der menschlichen Existenz und ihren Zivilisationen eine entsprechende Farbe verleihen.

Wie religiöse Feiertage, Messen und Gottesdienste tragen vielerlei Gelegenheiten dazu bei, sich dieser huld- und wertvollen, essenziellen Botschaften aufs neue Gewahr zu werden. Dies sind Anlässe, um sich diesem Gedanken lesend, hörend und vor allem auch empfindend noch einmal zuzuwenden. Diese Hinwendung stärkt das individuelle und gesellschaftliche Verständnis und die Bande im onthologischen und gefühlsmäßigen Sinne.

Erneut begeht die Christenheit, unsere Freunde, Nachbarn und Mitmenschen weltweit die Weihnachtsfeierlichkeiten. Solche Phasen spiritueller Kontemplation, Rückbesinnung und Bewusstwerdung sind auch uns Muslimen vertraut. Wir können sie allein schon durch die eigene Religiosität und Religionspraxis nachempfinden. So wird dieses hohe Weihnachtsfest von unseren aufrichtigsten Wünschen begleitet. In der Adventszeit von der Vesper bis zum Heiligabend wird der Geburt Jesu von Nazareth gedacht. (Friede sei mit ihm).

“Wie die Engel sprachen: „O Maria, Allah gibt dir frohe Kunde durch ein Wort von Ihm: sein Name soll sein der Messias, Jesus, Sohn Marias, geehrt in dieser und in jener Welt, einer der Gottnahen.“ (Koran, 3:45)

Bekannt ist, dass Jesus von Nazareth in der muslimischen Glaubenslehre als Prophet der Wahrheit und der Verkündigung einen wichtigen Platz einnimmt. Jedoch ist Jesus gerade für die in Europa lebenden Muslime nicht nur ein Prophet, dem sie huldigen, sondern gleichzeitig derjenige, der nicht nur für die christlichen Glaubensgemeinschaften als Wegbereiter der Religionsfreiheit im Diesseits und Bürge für Gleichheit und Gleichwertigkeit in der Gesellschaft und vor dem Schöpfer steht.

Religionen vermitteln Wissen, Glaube und Handlungsmaßstäbe, an denen sich zu messen, jeder Gläubige aufgefordert ist. Unter diesem Aspekt ist das Leben neben all dem Schönen und Idealen, auch Prüfung besonders darin, eine Kongruenz zwischen Wissen, Glaube und Handeln herzustellen. Diese Prüfung vollzieht sich also immer wieder aufs Neue im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis in Glaube, Glaubensinhalten und Handlungen, zwischen Anspruch und Umsetzung, zwischen Übereinstimmung und Unstimmigkeit und zwischen Gleichlaut und Unlaut, zwischen Gleichheit und Ungleichheit.

Als gläubiger Mensch geht es also nicht um den rein nominal-mechanischen Glauben, sondern um eine Einheit und Ganzheit von Glaube und Handeln. Und eben diese Kongruenz und Integrität im Glauben ist mit dem ewigen Leben und dem fortwährenden Paradies eng verbunden.

Natürlich erfolgt die Prüfung auf Kongruenz zwischen Grundsätzen und Handeln unabhängig von Religionen auch in Bereichen verschiedener Systeme und Konstrukte, im Individuellen, Gesellschaftlichen und Politischen. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit sich nicht nur der Form nach, sondern gerade im Wesen, im Gefühl und im Herzen gewissenhaft, bewusst und gleichzeitig vollzieht. Diese spirituelle, kognitive Kongruenz ist nicht nur Handlungsanleitung, sondern ebenfalls Bewertungsmaßstab des Geschehens, den es nicht nur mit den Sinnen wahrzunehmen, sondern mit dem Herzen und dem Gewissen zu erfassen gilt. In diesem Zusammenhang mögen zum Verständnis die von Jesus zitierten Worte des Propheten Jesaja beitragen: „Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden, und mit ihren Ohren hören sie nur schwer und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihren Herzen nicht zur Einsicht kommen…“ ( Matthäus 13, 14-15)

Wir wissen, dass das Gebot der Nächstenliebe, welches verlangt, dass man all das Geschehen in Acht nimmt, dass man dem Menschen, ohne irgendwelche ethnische oder religiöse Zugehörigkeit zu unterscheiden, beisteht, dass man dem Bedürftigen zur Hilfe eilt, zu den wichtigsten Geboten der Christenheit zählt. Jesus (nach Matthäus 22, 34) hatte auf die Frage eines Schriftgelehrten, welches Gebot im Gesetz das wichtigste sei, wie folgt geantwortet:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“ Natürlich kennen nicht nur Christen dieses Gebot und die Muslime schließen sich dieser allgemeingültigen Weisheit der Propheten an.

Die abendländische Philosophie, die sicherlich von dieser religiösen Weisheit und Lehre beeinflusst ist, hat es nicht versäumt, von der Liebe zum Menschen und daraus resultierenden Aufgaben zu sprechen. Immanuel Kant erklärt zum Beispiel in seinen Verhaltensmaximen die Achtung gegenüber Mitmenschen und die Hilfe für in Not geratene Menschen zur Pflicht eines jeden Menschen.

Im politischen Kontext sehen wir die Umsetzung der demokratischen Grundordnung, welches die Teilhabe von Unterschieden und die Freiheit für alle auf gleichem Niveau ermöglicht, in westlichen Ländern als verstanden, akzeptiert und vorbildlich umgesetzt.

Gleichzeitig müssen wir mit bedauern unsere Bestürzung über eine Reihe von Missetaten in Deutschland betonen, die wir im Namen der Menschlichkeit ablehnen und nicht verstehen können. Das Auftreten solcher bedauerlicher Ereignisse in einer Gesellschaft, die sich den Lehren von Jesus, der Philosophie von Kant und Seinesgleichen sowie den Grundsätzen der Demokratie fest verbunden fühlt, und die Erkenntnis des nicht zu unterschätzenden Potentials der Gefahr, besorgt uns zunehmend.

Wir alle durchlaufen eine Prüfung; als Individuen, als religiös Motivierte und als politisch Motivierte… eine Prüfung unserer Konsequenz.

Ich bin mir sicher, dass wir diese Prüfung erfolgreich absolvieren und Deutschland voranbringen werden, indem wir die uns obliegenden Aufgaben unabhängig von religiösen oder ethnischen Unterschieden erfüllen und uns gegenseitig unterstützen.

Ich erbitte von meinem Herrn, dass sich ein auf die Lehren von Jesus, den meine christlichen Schwestern und Brüder ehren und beleben, die Philosophie von Kant und die Grundsätze der Demokratie stützendes und aufgeklärtes Deutschland in kürzester Zeit von rassistischem Gedankengut befreit. Einem Gedankengut, welches den Menschen als Objekt betrachtet, ihn diskriminieren sogar töten kann, und daher keinen Platz in solch erhabenen Wertesystemen und Philosophien findet.

Ich erbitte vom Herrn, dass ein auf gesellschaftliche Zusammengehörigkeit und gemeinsame Werte basierendes Verständnis sich in Deutschland weiterhin durchsetzt und wünsche in diesem Sinne ein besinnliches und gesegnetes Weihnachtsfest.


Prof. Dr. Ali Dere
DİTİB Vorsitzender